Gefangene
Seelsorge in Gefängnissen
Immanuel Kant: Ein Blick auf das Leben und Vermächtnis des großen Denkers aus der Perspektive der Gefängnisseelsorge
Immanuel Kant, geboren am 22. April 1724 in Königsberg, war nicht nur ein bedeutender Philosoph seiner Zeit, sondern seine Ideen und Überzeugungen sind auch in der Welt der Gefängnisseelsorge von großer Bedeutung.
Anlässlich seines 300. Geburtstags möchten wir einen Blick auf sein Leben und sein Vermächtnis werfen und über die Relevanz seiner Philosophie für unsere Arbeit hier in der Gefängnisgemeinschaft reflektieren.
Kant formulierte den berühmten "Kategorischen Imperativ", der besagt: "Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde."
Diese ethische Grundregel erinnert uns daran, dass unser Handeln nicht nur von persönlichen Interessen, sondern auch von universellen moralischen Prinzipien geleitet sein sollte.
In einer Umgebung wie der unseren, in der Menschen mit verschiedenen Lebensgeschichten und Moralvorstellungen aufeinandertreffen, ist es wichtig, diese universellen Prinzipien zu respektieren und zu fördern.
Ein weiteres bedeutendes Konzept in Kants Philosophie ist seine Anerkennung der Würde und Autonomie des individuellen Menschen. Sein Zitat "Wer sich aber zum Wurm macht, kann nachher nicht klagen, dass er mit Füßen getreten wird" erinnert uns daran, dass jeder Mensch, unabhängig von seiner Vergangenheit oder seinen Umständen, das Recht hat, mit Würde und Respekt behandelt zu werden.
"Wer sich aber zum Wurm macht, kann nachher nicht klagen, dass er mit Füßen getreten wird"
Kants Vermächtnis
Für unsere Arbeit in der Gefängnisgemeinschaft
Als Gefängnisseelsorgerinnen und -seelsorger ist es unsere Aufgabe, diesen Respekt und diese Würde zu wahren und zu fördern, während wir den inhaftierten Menschen dabei helfen, ein Leben nach moralischen Prinzipien und ethischen Werten anzustreben. Zum 300. Geburtstag von Immanuel Kant möchten wir nicht nur sein Leben und sein Vermächtnis feiern, sondern auch seine zeitlosen Ideen und Überzeugungen als Quelle der Inspiration und Orientierung für unsere Arbeit hier in der Gefängnisgemeinschaft anerkennen. Tun wir alles dafür, dass sein Erbe uns dabei hilft, die Herausforderungen der Gegenwart zu meistern und eine unterstützende und respektvolle Umgebung für die Menschen zu schaffen, die unsere Betreuung suchen.
Happy Birthday Immanuel Kant!
Immanuel Kant, geboren am 22. April 1724 in Königsberg.
"Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde." – Der "Kategorische Imperativ".
"Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir."
"Wer sich aber zum Wurm macht, kann nachher nicht klagen, dass er mit Füßen getreten wird."
Illustration: Christian Tönsmann, Zitate: Jens-Christian Rabe, Süddeutsche Zeitung, 19.04.24
"Das Wort „Gefängnis“ lässt keinen gleichgültig. Selten wird darüber sachlich gesprochen. Oft mit Schaudern. Oder mit Angst. Oder Wut. Was dort wirklich passiert, wissen wenige. Viele wollen es auch gar nicht wissen. „Hauptsache die Mauern sind hoch und sicher – und wir haben damit nichts zu tun!“
Mir ist das deutlich geworden, als ich eine Andacht für den Lüttringhauser Anzeiger zum Buß- und Bettag schrieb:
Ein ganzer Tag, um zu büßen und zu beten?
Lüttringhauser Anzeiger, 19.11.22
Wahrscheinlich stimmen einige zu, wenn ich sage, dass mir als Seelsorger im Gefängnis der Buß- und Bettag wichtig ist:
„Na klar, die Gefangen sollen büßen, deshalb sitzen sie im Gefängnis.“
Vielleicht ist es im Gefängnis leichter über Schuld und Buße zu reden als draußen in der Freiheit. Dabei kennt jeder das Gefühl, wenn er oder sie mit einer
Beurteilung von Vorgesetzten konfrontiert wird und es in einem rumort:
„So richtig und wirklich alles, was ich geleistet habe und wie ich bin, ist nicht wahrgenommen.“
Und im Streit mit Freunden, fühlt man sich noch schneller falsch beurteilt:
„Der versteht, der kennt mich gar nicht – und trotzdem urteilt er über mich!“
Den Gefangenen geht es ähnlich. Zwar hat mit dem Urteil ein Gericht die Schuld festgestellt, aber das Gericht stellt EINE Wahrheit fest. All das, was man denkt und fühlt:
„Ich habe das nicht gewollt; ich bin da doch nur reingeraten; warum sehen die nicht, was die anderen gemacht haben; das war doch ganz anders.“
Das sind Versuche sich zu verteidigen. Vor Gericht hat jeder das Recht sich zu verteidigen. Aber wenn das Urteil gefallen ist, schwarz auf weiß, im Namen des Volkes, spielt diese subjektive Wahrheit keine Rolle mehr.
Dabei wäre es so gut, wenn es einen Ort gäbe, an dem man seine eigene Sicht der Dinge darlegen könnte – ohne sich verteidigen zu müssen. Wenn man sich nicht verteidigen, nicht Deckung hinter Mauern suchen muss, dann könnte man auch sagen, was man tatsächlich gemacht hat, ja, falsch gemacht hat. Und dann würde das Falsche einem leidtun.
Man brauchte einen Ort, wo man so sein könnte wie man wirklich ist. An dem man nicht fürchten muss, für das Falsche und Böse, verdammt zu werden.
Die Gefangenen, die am Buß- und Bettag in den Gottesdienst gehen, suchen genau das: Dass einer ihnen zuhört, ihrer Stimme im Herzen und den Gedanken ihres Verstandes. Dass sie das Falsche und Böse nennen können. Sie haben eine Ahnung, dass Gott ein strenger Richter ist. Aber sie vertrauen darauf, dass er gerecht ist. Und dass er auch das Gute sieht. Und dass er in mir die Kraft pflanzt, damit das Gute die Oberhand gewinnt.
Ich vermute, dass man diese Erfahrung nicht nur im Gefängnis braucht.
Bleiben Sie Gott befohlen!
Michael Diezun